Wenn durch die tatsächliche Entwicklung eine Situation geschaffen wird, welche die Rechtsordnung anerkennt oder anerkennen muss, spricht der gelahrte Jurist von der normativen Kraft des Faktischen. Deren Verkörperung im Alltag wird weniger gelahrt als Gewohnheitsrecht bezeichnet. Dieses musste historisch besehen in den meisten Lebensbereichen dem staatlich erlassenen Gesetzesrecht weichen.
Eine spannende Ausmarchung zwischen Gesetzesrecht und Gewohnheitsrecht findet im Strassenverkehr statt. Laut Strassenverkehrsgesetz gilt grundsätzlich Rechtsvortritt. Gewohnheitsrechtlich setzte sich aber immer mehr die Regel durch, dass Vortritt hat, wer geradeaus fährt. Dem passte sich die rechtliche Ordnung jahrzehntelang an, indem Hauptstrassen ausgeschildert und seitlich einmündenden Strassen das Vortrittsrecht durch eine entsprechende Signalisation genommen wurde. Seit ein paar Jahren wird versucht, das Rad zurückzudrehen und dem Rechtsvortritt wieder zum Durchbruch zu verhelfen. An immer mehr Einmündungen wird die Signalisationen beseitigt, so dass eigentlich wieder Rechtsvortritt gilt. Doch vor allem Zeitgenossen, die schon länger Autos lenken, lassen sich dadurch nicht von alten Gewohnheiten abbringen und bestehen auch gegenüber Verkehr von rechts unbeirrt auf Vorfahrt, solange sie geradeaus fahren. Die normative Kraft lässt freundlich grüssen.
Während die Kollision zwischen Gewohnheitsrecht und Gesetzesrecht im Strassenverkehr meist glücklicherweise nur zu Ärger oder Sachschaden führt, geht es im Zusammenhang mit der weltweiten Überwachung der Kommunikationsflüsse durch Geheimdienste um wesentlich mehr. Hier hat sich die normative Kraft des faktischen Verhaltens der Sicherheitsbehörden mit einer Macht durchgesetzt, der vermutlich kein Gesetzgeber dieser Welt mehr mit rechtlichen Normen zu begegnen vermag.
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