25. Mai 2010

Wieder erwachende Beratungskultur



Im Film und in den meisten Wirklichkeiten zieht ein Gericht sich zur Beratung seines Urteils zurück. Doch was fast überall auf der Welt hinter verschlossenen Türen geschieht, muss das Schweizer Bundesgericht in aller Öffentlichkeit tun. Sofern ein Urteil nicht einstimmig zustande kommt, wird darüber vor Publikum debattiert und abgestimmt.


Frühere Richtergenerationen haben daraus mit viel Lust am Kreuzen der geistigen Klingen eine Beratungskultur entwickelt, auf der eine bemerkenswerte Rechtsprechung gedieh. Seit den Neunziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts indes werden öffentliche Beratungen immer mehr umgangen, indem man mit gruppendynamischem Druck für Einstimmigkeit sorgt, so dass das Urteil auf dem Weg der Aktenzirkulation gefällt werden kann.


In jüngster Zeit allerdings sind Anzeichen einer wieder erwachenden Beratungskultur auszumachen. Es wird wieder offener diskutiert, und die unterschiedlichen Standpunkte erscheinen nicht mehr unverrückbar in Stein gemeisselt. Erst noch gewöhnen muss sich die heutige Richtergeneration allerdings daran, dass das Ganze vor Publikum stattfindet, das die im Vorfeld intern beschriebenen Papiere nicht kennt. Dieses Publikum weiss weder, «was auf Seite 7 des Referats ausgeführt wird» noch versteht es, warum es besser wäre, die «unter Ziffer 2.1» angestellten Erwägungen im Lichte des «in Ziffer 3.4» Gesagten «im Anschluss an Ziffer 4.4» noch etwas zu vertiefen...
fel.

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