13. März 2011

Verdauliche Dosen

In einem Kommentar zu meinem Kalenderblatt von gestern (Proportionen wahren) wurde zu Recht darauf hingewiesen, dass spektakuläre Unfallereignisse viel stärker wahrgenommen werden als alltägliches Unfallgeschehen. Anders herum gesagt: Je besser Unfalltote zeitlich und geografisch verteilt sind, desto
eher werden sie von der Gesellschaft hingenommen. Würden jährlich 50 Flugzeuge auf Wohngebiete abstürzen und dabei jedes mal 10'000 Menschen umkommen, wäre der Flugverkehr längst eingestellt. Doppelt so viele Menschen kommen jährlich gut verteilt über das weltweite Strassennetz bei Verkehrsunfällen um, ohne dass jemand ernsthaft das Autofahren untersagen möchte. Das irrationale Verhalten der Gesellschaft, die über eine Million Verkehrstote erträgt, weil sie gewissermassen in homöopathischen Dosen anfallen, dürfte allerdings noch einen anderen Grund haben. Je ungewohnter und aussergewöhnlicher eine Technologie ist, desto mehr wird sie beargwöhnt. In ein Auto setzen die meisten sich mehrmals täglich, während ein Flug nur für wenige zur Selbstverständlichkeit wurde.

Beide Ursachen spielen auch bei der Wahrnehmung der Nukleartechnologie und ihrer Risiken mit. Zu Unfällen ist es bisher zum Glück nur selten gekommen, doch erregten selbst kleinere Störfalle grosses Aufsehen. Nun hat eine Katastrophe in Japan die Welt im Schock erstarren lassen, obwohl dabei selbst im Falle des drohenden GAUs nicht annähernd so viele Menschen umkommen können, wie seit der Inbetriebnahme des ersten Atomreaktors weltweit im Strassenverkehr starben. Die Wahrnehmung ist ebenso irrational wie menschlich. Doch wenn diese schiefe Wahrnehmung dazu führt, dass die Politik sich auf moderne Technologien und erneuerbare Energiequellen besinnt und wir alle mit Energie etwas sorgsamer umgehen, wäre Irrationales für einmal sogar von Gutem!

6 Kommentare:

  1. Deine Erkenntnis ist bitter und wahr zugleich. Es bleibt zu hoffen, dass die Politik möglichst lange an den jetzigen Ereignissen zerren wird.

    AntwortenLöschen
  2. Zur Risikowahrnehmung gehört ja auch noch die Rolle, die man selbst dabei spielt. Beim Flugzeugabsturz auf ein Wohnquartier sind die Passagiere und die Quartierbewohner dem Geschehen hilflos ausgeliefert. Als Autofahrer habe ich immer noch das Gefühl, selbst etwas tun zu können, um einen Unfall zu vermeiden. Das ist auch schon geschehen, sonst sässe ich nicht hier.

    AntwortenLöschen
  3. Du sprichst einen wahren Aspekt an. Trotzdem ist der Vergleich Straßenverkehr - Atomkatastrophe völlig unzulässig. Was diese Art von Katastrophe - die in Japan so bisher noch nicht eingetreten ist - so fürchterlich macht, ist ja nicht, dass es soundsoviele Tote gibt, sondern sind über Jahrzehnte unbewohnbare Landschaften, sind Schäden am Erbgut, sind nachkommende Erkrankungen undund...

    AntwortenLöschen
  4. @Horst Peter Pohl
    Ich vergleiche bewusst nur die WAHRNEHMUNG der Ereignisse, die unterschiedlich ist, je nach zeitlich/örtlicher Verteilung und dahinter stehender Technik. Ein Vergleich der FOLGEN von Strassenverkehrsunfällen und atomarem Gau ist selbstverständlich unzulässig.

    AntwortenLöschen
  5. @ Horst Peter Pohl
    Du hast mir aus tiefstem Herzen gesprochen; und das habe ich schon vorher Markus Felber mitgeteilt.

    @Markus Felber
    ...obwoh ich eigentlich davon ausgehen konnte, dass Du es wohl so gemeint hast (mit Deinem Beitrag).

    Wir Menschen denken immer noch, alles und überall jederzeit im Griff haben zu können. Die Natur gibt uns immer wieder einmal einen (gewaltigen!) Wink mit dem Zaunpfahl, dass dem nie so sein wird. Gerade bei der Frage der Kernenergie (und somit dem Bau von solchen Anlagen) stützen wir uns zwar auf Ereignisse in der Vergangenheit und tun alles dafür, um entsprechende Vorkehrungen zu treffen. Doch auch diesmal hat das Ereignis in Japan gezeigt, dass es immer anders kommt, als man denkt und Theorie und Praxis in einem solchen Bereich fatale Folgen haben kann.

    AntwortenLöschen
  6. Im Laufe der Evolution hat sich erwiesen, dass es besser ist, vom Raubtier davonzulaufen, wenn wir eins sehen - dies, ohne gross darüber nachzudenken, ob allenfalls Alternativen bestünden, oder ob das Risiko, beim Davonlaufen dann von einer giftigen Schlange gebissen zu werden nicht noch grösser ist. Wer unüberlegt handelt und losrennt, der überlebt im Schnitt häufiger. Dieser Instinkt ist uns bis heute geblieben. Daher reagieren wir auf unerwartete, schockierende Ereignisse (der Schwarze Schwan von Taleb lässt grüssen) einfach heftiger und nicht immer falsch. Man muss sich nämlich tatsächlich (auch ohne die tragischen Ereignisse in Japan) die Frage stellen, ob die Atomindustrie nicht jahrzehntelang die Folgekosten ihres Tuns tatsächlich alle eingerechnet hat. Die Lagerkosten für den ganzen Müll sind die von Ihnen erwähnten homöopathischen Dosen. Fukushima rüttelt uns hingegen wach. Es wird Zeit, zu rennen.

    AntwortenLöschen