In der Schweiz zeichnet sich im Umgang mit Menschenrechten und deren obersten Hütern in Strassburg eine Entwicklung ab, die es im Auge zu behalten gilt. Skeptiker gegenüber Völkerrecht und fremden Richtern gab es immer, doch wurde die Europäische Menschenrechtskonvention und der Gerichtshof für Menschenrechte grossmehrheitlich und zu Recht hoch geachtet. Seit geraumer Zeit indes sehe ich Leute, die ich als amici curiae (Freunde des Gerichtshofs) bezeichnen würde, besorgt den Kopf schütteln über gewisse neuere Entscheide aus Strassburg. Und gestern nun, ist im Verlaufe einer öffentlichen Urteilsberatung auch im höchsten Gericht des Landes offen Unmut und harsche Kritik laut geworden (NZZ vom 16.9.10).
Dass einzelne Bundesrichter kritische Bemerkungen zur Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte machen, ist nicht neu. Bisher geschah das aber sehr isoliert und diplomatisch, in Watte verpackt gewissermassen. Gestern jedoch wurde in aller Härte Klartext gesprochen und von keinem der Richter in der Runde ernsthaft widersprochen. Und was gesagt wurde, wiegt schwer. Weniger der Vorwurf, das Urteil enthalte aktenwidrige Behauptungen und logischen Widerspruch. Solches passiert jedem Gericht dann und wann. Ernst wird die Sache aber, wenn aus dem höchsten Gericht eines Europarats-Mitglieds der Vorwurf ertönt, der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte überschreite seine Kompetenzen.
Diese Instanz hat im vergangenen Jahrhundert mit ihrer Rechtsprechung für Europa einen einheitlichen Menschenrechts-Standard geschaffen, der kaum hoch genug eingeschätzt werden kann. Wie schon im Kalenderblatt vom 10. April 2010 bemeckert, scheint indes seit einigen Jahren in Strassburg der Blick fürs Ganze eher getrübt. Die Richter statuieren vermehrt Exempel an Details und verlangen von den Staaten Europas Anpassungen, die im besten Fall kleinere Ungerechtigkeiten durch andere ersetzen. Das schafft Unmut bei den einen und Besorgnis bei jenen, die der grandiosen Idee der Europäischen Menschenrechtskonvention positiv gegenüber stehen. Ich gehöre zu letzteren und fürchte, dass die gegenwärtige Entwicklung, wenn sie nicht korrigiert wird, in der direkt demokratisch organisierten Schweiz einen für den Schutz der Menschenrechte verhängnisvollen Lauf nehmen könnte.
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